Allg. Impfpflicht oder keine allg. Impfpflicht: Das war die Frage. Denn am Mittwoch, den 26.02.2022, hat nicht nur der Bundestag über die allg. Impfpflicht diskutiert, auch die Jusos Kiel haben sich im Rahmen eines Themenabends mit der Frage beschäftigt, ob eine allg. Impfpflicht in Deutschland eingeführt werden sollte. Der Themenabend war der erste der neuen Veranstaltungsreihe „Themenabende“, die von nun an jeden letzten Mittwoch im Monat stattfinden sollen. Das neue Format bietet Gelegenheit, sich über grundsätzliche oder aktuelle politische Themen zu informieren und sich, als Jusos Kiel, gemeinsam mit diesen auseinanderzusetzen. Eines hat sich an diesem Abend mit Gewissheit herausgestellt: Der Beitrag zur Meinungsbildung, den die Themenabende leisten können, macht sie zu einem Format, das weiterzuverfolgen sich lohnt. Wie ist es aber nun mit der allg. Impfpflicht? Sollte sie kommen oder nicht?
Wer diesen Beitrag zu Ende verfolgt, der wird wissen, warum es die Antwort darauf nicht gibt und wie doch eine Antwort darauf gefunden werden kann. Um dahin zu gelangen, stellt man sich die Debatte um die allg. Impfpflicht am besten einmal als Erzählung vor… Am Anfang von Erzählungen liegen die Dinge häufig sehr einfach und so auch in der Debatte um die Impfpflicht: Das COVID-19-Virus hält die Welt in Atem. In Deutschland werden die Freiheitsrechte in einem Ausmaß eingeschränkt wie nie zuvor in der Geschichte der BRD. Die Pandemie fordert viele Todesopfer und führt zu schwerwiegenden (mitunter langfristigen) Erkrankungen.
1 Wirtschaftlich bedroht die Schließung von Geschäften Existenzen und sozial stellen sich die Kontaktbeschränkungen für viele Menschen als nicht weniger existenziell dar. Dennoch wird eine Impfpflicht anfangs größtenteils kategorisch abgelehnt. 2 Zunächst ist kein Impfstoff verfügbar. Nach dessen Einführung hofft man darauf, dass die Impfquote auch ohne Impfpflicht ein ausreichendes Maß erreicht, um die Pandemie zu bewältigen. Eine klare Antwort. Nachdem sich diese Hoffnung nicht bestätigt und das Infektionsgeschehen das Land weiter im Griff hat, wird die allgemeine Impfpflicht für viele zum Ausweg aus der Pandemie und mit der Wiedererlangung von Freiheit sowie dem Schutz von Menschenleben verbunden. Im Dezember 2021 erreicht die Zustimmung Rekordwerte. In der Bevölkerung sind nun 73% für die Einführung einer Impfpflicht, 3 der Ethikrat befürwortet diese (mit einer Mehrheit von 13 zu 20 Mitgliedern) 4 und eine große Zahl von Politikern/Politikerinnen, insbesondere der nun amtierende Bundeskanzler Olaf Scholz sowie die Ministerpräsidenten und Ministerpräsidentinnen der Länder, sehen sie als erforderlich an. 5 Mal wieder eine (mehr oder weniger) klare Antwort.
Eine 2G-Regelung, die häufig etwas misslich als Impfpflicht bezeichnet wird, wird für bestimmte Berufsgruppen vom Bundestag schonmal beschlossen (vgl. § 20a IfSG). So, wie sich in Erzählungen regelmäßig nach der Ruhe vor dem Sturm ein Konflikt anbahnt, stellen sich auch hinsichtlich der allgemeinen Impfpflicht im Januar 2022 zunehmend Zweifel an der allgemeinen Impfpflicht ein. Die Omikron-Variante beginnt, das Infektionsgeschehen zu dominieren. 6 Die häufig milderen Verläufe nach einer Omikron- Infektion stellen infrage, ob eine allgemeine Impfpflicht überhaupt erforderlich ist. Omikron hält dem Land außerdem vor Augen, wie schnell neue Varianten auftreten und den Schutz durch eine Impfung abschwächen können.
Nichtsdestotrotz halten viele Politiker:innen an der allgemeinen Impfpflicht fest, 7 während die Zustimmung in der Bevölkerung sinkt (60%; Stand: Januar 2022) 8 . Obgleich die Bundesregierung keinen eigenen Gesetzesentwurf in den Bundestag einbringt, bereiten Abgeordnete aus den Fraktionen der Ampel-Koalition einen Antrag für eine allg. Impfpflicht vor. Ebenso finden sich aber fraktionsübergreifende Gruppen von Abgeordneten zusammen, die auf Alternativen setzen (etwa stufenweise ein verpflichtendes Beratungsgespräch und eine Impfpflicht ab 50 Jahren) oder die Impfpflicht gänzlich ablehnen. 9 Der Konflikt liegt offen zutage. Wer Protagonist:in dieser Erzählung ist, der muss entscheiden; denn nicht zu entscheiden, wäre auch eine Entscheidung. Lassen sich also rationale Argumente finden, diesen Konflikt zu lösen? Für einige weist dabei die Geschichte den Weg in die Zukunft. Eine Pockenimpfpflicht gab es bis 1983. Sie wurde vom Bundesverwaltungsgericht bestätigt 10 und nur mangels fortdauernder Gefährdungslage abgeschafft. Gerade 2019 wurde zudem eine Masern- Impfpflicht vom Bundestag beschlossen. 11 Warum also nicht für COVID-19? Beide Impfpflichten betreffen nur einen beschränkten Teil der Bevölkerung, die Ausrottung der Krankheiten durch die Impfungen war bzw. ist greifbarer 12 und – für viele Impfgegner:innen von erheblicher Bedeutung – ihnen lagen bzw. liegen keine neuartigen mRNA- oder Vektor-Impfstoffe zugrunde 13 . Ein zwingender Schluss von diesen Impfpflichten auf die COVID-19-Impfpflicht liegt deshalb fern. Nichtsdestotrotz: Eine Impfpflicht ist unserer Gesellschaft nicht fremd und eine Impfpflicht an sich abzulehnen, wird vor diesem Hintergrund schwieriger. Nur muss man sie deshalb noch lange nicht befürworten.
Vielmehr müsste es positive Gründe geben, die eine Impfpflicht zwingend erscheinen lassen. Derlei Gründe scheint es viele zu geben: So hört man häufig, die Impfpflicht wäre der einzige Weg aus der Pandemie. Wer Prof. Dr. Drosten glaubt, der muss dieses Argument aber zurückziehen: „Natürlich kann man auch ohne Impfungen diese Bevölkerungsimmunität aufbauen…dann kann es eben wirklich Jahre dauern, bis man aus der Pandemie raus ist.“ In einem Nachsatz von Prof. Dr. Drosten kommt allerdings ein anderer möglicher Grund zum Ausdruck: „Aber der Aufbau, dass man das einmal aufschichtet, das kann man nicht durch das Virus machen, wenn man nicht sehr viele Todesfälle riskieren möchte.“ 14 Die Wahrheit ist aber: Wir riskieren als Gesellschaft ständig sehr viele Todesfälle. Ob es nun der Autoverkehr ist, den wir nicht verbieten, oder das Influenzavirus, dem wir nicht mit einschneidenden Maßnahmen begegnen. Bleibt nur noch der Grund, der wohl auch am häufigsten genannt wird: Wir müssen eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern.
Aber wird es denn ohne eine allgemeine Impfpflicht zu Überlastungen des Gesundheitssystems kommen? Und mit welcher Wahrscheinlichkeit? Die Omikron-Welle lässt daran zweifeln, dass hohe Infektionszahlen stets eine Überlastung des Gesundheitssystems zur Folge haben müssen. Die Belegung der Intensivbetten war zuletzt rückläufig trotz steigender Infektionszahlen. 15 Selbstverständlich muss das für die weitere Entwicklung und zukünftige Varianten, um die es bei der Impfpflicht nur gehen kann, nicht gelten und erst recht nicht, wenn die bürgerlichen Freiheiten wiederhergestellt werden. Nur scheint eine Prognose schwierig, wohingegen der Eingriff durch eine Impfpflicht mit absoluter Sicherheit eintritt. Zudem ist unklar, ob nicht schon eine beschränkte Impfpflicht (etwa für über 50-jährige) die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern kann.
Auch hinsichtlich positiver Gründe für eine allg. Impfpflicht muss deshalb festgehalten werden: Es gibt gute Gründe für eine Impfpflicht, nur befreien auch sie nicht von einer Entscheidung. Liegt auch darin also keine Antwort, ist noch ein anderer Weg denkbar, sich der Last, entscheiden zu müssen, zu entledigen. Was nicht rechtens ist, darf nicht beschlossen werden. Ist eine allgemeine Impfpflicht vielleicht verfassungswidrig? Der Vorwurf, dass sie einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in die Menschenwürde (Art. 1 I GG) darstellt, wird wenig diskutiert. 16 Der wesentliche Vorwurf ist eher, dass eine allgemeine Impfpflicht möglicherweise einen zwar grundsätzlich zu rechtfertigenden, in diesem Fall aber ungerechtfertigten Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit darstellt (Art. 2 II 2 GG). 17 Dies ließe sich im Hinblick auf verfügbare mildere Mittel (wie etwa eine Impfpflicht für über 50-jährige) oder die bestehenden Prognoseunsicherheiten vielleicht argumentieren.
Allerdings steht dem Gesetzgeber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das diese Frage zu entscheiden hätte, ein gewisser Prognosespielraum hinsichtlich tatsächlicher Fragen und ein Wertungsspielraum hinsichtlich normativer Fragen offen, 18 weshalb eine Rechtswidrigkeit der Entscheidung alles andere als offensichtlich ist. Auch vom Recht kann in derart schwierigen Fragen deshalb kaum dirigierende Kraft im Vorhinein ausgehen. Es darf auch nicht die Aufgabe des Rechts sein, in umstrittenen gesellschaftlichen Diskursen eine politische Auseinandersetzung entbehrlich zu machen. Bekanntlich sind aber auch diejenigen Erzählungen am spannendsten, in denen der Protagonist/die Protagonistin den Konflikt erst im zweiten Anlauf löst. Eine rationale Auseinandersetzung über die allgemeine Impfpflicht ist unentbehrlich und wie sich gezeigt hat, kann sie auch dazu beitragen, Grenzen für eine Entscheidung auszuloten.
Nach allem, was bisher ausgeführt wurde, scheint eine allgemeine Impfpflicht vertretbar. Es lassen sich aber weiterhin Argumente dafür und dagegen finden. Die Antwort bleibt uns verwehrt. Möchte man diesen Konflikt auflösen und eine Antwort finden, muss man deshalb einen anderen Weg gehen. Die Debatte um die Impfpflicht ist auch eine emotionale Debatte. Hat man sich mit den Argumenten vertraut gemacht, so führt der Weg zur Antwort nur über den Sprung vom 5-Meter-Brett. Man muss sich fragen, was einen in dieser Debatte besonders berührt: Wie lange will man vielen Menschen noch (soziale) Einschränkungen bis hin zur Isolation zumuten? Zählt jedes Menschenleben oder muss man den Schutz von Menschenleben im Angesicht gesellschaftlicher Entscheidungen relativieren, wie wir es (mehr oder weniger) unbewusst tagtäglich tun? Kann man jemanden zur Impfung verpflichten, den dies (ganz gleich wie rational) mit Angst erfüllt und dem diese Selbstbestimmung das höchste Gut ist? Die Frage nach der allgemeinen Impfpflicht ist, wie in der Politik häufig betont wird, 19 auch eine Gewissensentscheidung. Die Erzählung endet deshalb hier. Den Rest des Weges muss jede:r für sich selbst gehen.
Leon Watermann
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1 https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html;jsessionid=25517E3E45A93
DE29D95C7904ABC51A0.internet111?nn=2386228 (zuletzt abgerufen: 04.02.2022).
2 https://www.zeit.de/news/2022-01/23/umfrage-zustimmung-zu-allgemeiner-impfpflicht-sinkt? (zuletzt
abgerufen: 04.02.2022).
3 https://www.tagesspiegel.de/politik/eindeutige-umfragen-anhaltende-debatten-kommt-die-impfpflicht-wer-
dafuer-wer-dagegen-ist-und-warum/27856318.html (zuletzt abgerufen: 04.02.2022).
4 https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Ad-hoc-Empfehlungen/deutsch/ad-hoc-empfehlung-
allgemeine-impfpflicht.pdf (zuletzt abgerufen: 04.02.2022).
5 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-omikron-gipfel-100.html (zuletzt abgerufen: 04.02.2022).
6 https://www.tagesschau.de/inland/rki-wochenbericht-omikron-delta-103.html (zuletzt abgerufen:
04.02.2022).
7 https://www.dw.com/de/covid-19-impfpflicht-kein-klares-bild-in-politik-und-wissenschaft/a-60414683
(zuletzt abgerufen: 04.02.2022).
8 https://www.zeit.de/news/2022-01/23/umfrage-zustimmung-zu-allgemeiner-impfpflicht-sinkt? (zuletzt
abgerufen: 04.02.2022).
9 Zu den verschiedenen Entwürfen https://www.deutschlandfunk.de/diese-vorschlaege-liegen-bisher-vor-
104.html (zuletzt abgerufen: 04.02.2022).
10 BVerwG, Urt. v. 14.07.1959 – I C 170.56, abrufbar unter: https://openjur.de/u/2347742.html (zuletzt
abgerufen: 04.02.2022).
11 https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2019/kw46-de-masernschutzgesetz-667326 (zuletzt
abgerufen: 04.02.2022).
12 https://www.merkur.de/welt/corona-streeck-impfpflicht-bonn-virologe-pocken-masern-91246795.html
(zuletzt abgerufen: 04.02.2022).
13 https://www.impfen-info.de/wissenswertes/impfstoffe/ (zuletzt abgerufen: 04.02.2022).
14 Zu den Zitaten https://www.deutschlandfunk.de/interview-christian-drosten-100.html (zuletzt abgerufen:
04.02.2022).
15 https://www.tagesspiegel.de/wissen/20-mal-so-viele-infektionen-wie-vorher-was-mit-omikron-auf-die-
intensivstationen-zukommt/27975674.html (zuletzt abgerufen: 04.02.2022).
16 Vgl. dazu etwa den Bericht des Ethikrates (Fn. 4), S. 5, der diese Frage nur in einem Nebensatz behandelt.
17 Dies ist auch im Bericht des Ethikrates (Fn. 4), S. 5 ff., die wesentliche Frage.
18 Siehe dazu den Bericht des Ethikrates (Fn. 4), S. 6, auch mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichts.
19 Siehe etwa https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/129555/Buschmann-will-Impfpflicht-zur-
Gewissensfrage-machen (zuletzt abgerufen: 04.02.2022).